traeume-slider

Schwester Gisela

Jahrgang 1941

„Dass Menschen mehr versuchen, sie selber zu sein“

Wenn ich das Wort Träume höre, dann klingt in mir spontan an: eine große Leichtigkeit – eine Leichtigkeit auf dem Weg zum Ende, zum Himmel. Und dort? Noch ein Traum, für mich, für andere: Ich denke an die Geschichte vom Rabbiner Sussja, der gesagt hat: „Wenn ich einmal diese Welt verlassen und mich für meine Handlungen rechtfertigen muss, wird man mich nicht fragen, warum warst Du nicht wie Abraham, wie Moses, wie Maimonides? Man wird mich fragen: Warum warst Du nicht Sussja?“ Es ist meine Hoffnung, mein Traum vielleicht, dass Menschen mehr versuchen, sie selber zu sein. Dass sie bei allem, was von außen auf sie einstürmt, den inneren Menschen nicht vergessen.

Ein heller, großer Raum, zwei Sessel sind vor das Fenster zum Garten gerückt, davor brennt eine Kerze, Tee und Weintrauben stehen für den Gast bereit: Es ist ein Ort der Ruhe, mitten in der Bayreuther Innenstadt, das Haus, in dem Schwester Gisela und ihre Mitschwester leben. Sie bilden den Stadtkonvent Bayreuth der Communität Christusbruderschaft Selbitz. Schwester Gisela, Jahrgang 1941, passt zu dieser kleinen Oase: Sie strahlt Ruhe und Wachheit zugleich aus, die Stimme jung, der schwäbische Akzent verweist auf die Wurzeln ihrer Lebensgeschichte. Es ist die Geschichte eines Menschen auf der Suche nach seiner Bestimmung.

Schwester Gisela wird 1941 im nördlichen Schwarzwald geboren. Der Vater, Studienrat, ein „Urschwabe“, ist im Krieg, die Mutter, eine Westfälin, sorgt für Gisela und zwei Geschwister. Einige Erinnerungen an die Kriegszeit haben sich bei Schwester Gisela festgemacht: Wie sie bei Fliegeralarm mit der Mutter im Bunker sitzt. Oder die Nacht im April 1945, als die Mutter mit den drei Kindern flüchtet, als die französischen Besatzungstruppen in Richtung Calw ziehen. Mit einem Pritschenwagen ohne Licht werden sie abgeholt von Opa und Onkel, hin zu der Familie des Vaters in der Nähe von Freudenstadt, nach Igelsberg. In der Aufregung der Nacht vergisst Gisela ihre Puppe in Calw – auch das eine prägende Kindheitserinnerung.

Die Mutter bleibt nach Kriegsende mit den Kindern in Igelsberg. 1948 kommt der Vater zurück: Er war in Kriegsgefangenschaft, zunächst in Dänemark, dann im ehemaligen Konzentrationslager Neuengamme, in dem die britischen Besatzungsbehörden für drei Jahre ein Internierungslager eingerichtet hatten. „Er muss Furchtbares erlebt haben“, so Schwester Gisela: „Das Schlimme daran: Er hat nie darüber geredet.“ Es sei schwer gewesen, einen Zugang auf der Gefühlsebene zu ihm zu bekommen, auch, wenn man viel miteinander gemacht habe. Das sei ihr erst viel später, bei einer Familienaufstellung, bewusst geworden.

Der Vater übernimmt eine Stelle am Progymnasium in Baiersbronn. Schwester Gisela macht Mittlere Reife und geht auf eine Haushaltsschule in Freudenstadt, merkt aber schnell: „Das ist nicht meins.“ In einem Jugendkreis lernt sie ein Mädchen kennen, das Drogistin lernt – das spricht sie an. Und so zieht die 15jährige nach Stuttgart zu einer Tante, wird Drogistin, landet dann auf ihrer ersten Stelle in Hofheim am Taunus und ist damals „bis über beide Ohren verliebt.“ Doch sie sucht weiter ihren Weg: Sie geht als Au-Pair in eine Familie in der französischsprachigen Schweiz, danach als Drogistin zurück nach Freudenstadt. Nun ist es Bundespräsident Theodor Heuss, der ihrem Leben eine neue Richtung gibt: Heuss startet einen Aufruf, die Gemeindeschwestern bei ihren diakonischen Tätigkeiten vor Ort zu entlasten, und so macht sich Schwester Gisela auf den Weg zu einem Diakonischen Jahr in Schwäbisch-Hall. Dabei besucht sie einen Vorschulkurs in Krankenpflege und empfindet eine so große Befriedigung bei dieser Tätigkeit, dass sie entscheidet: „Ich werde Krankenschwester.“
Mit 22 Jahren wieder ein Aufbruch in ihrem Leben, sie wird Schwesternschülerin.

Die Umbrüche der 1960er Jahre erlebt sie auf ihre Weise: „Einmal hat mich die Oberschwester gefragt: Was würden Sie mit einer Schwester machen, die mit Hosen ins Mutterhaus läuft? Ja, habe ich gesagt, die würde ich einfach laufen lassen. Bis ich dann gemerkt habe, dass die mich gemeint hat! Da kam dann raus, dass ich die Hausordnung nicht richtig gelesen habe. Aber gut“, Schwester Gisela lacht, „ich durfte weiterleben.“ So war das halt.

Als Krankenschwester geht sie nach Stuttgart. Dort lernt Schwester Gisela den „Offenen Abend“ kennen, eine Gemeinschaft innerhalb der evangelischen Kirche, die christliche Werte und gesellschaftliches Engagement verbindet und damals sehr großen Zulauf hat. Zunehmend wird die Gemeinschaft für Schwester Gisela ein Stück Heimat, Freundschaften entwickeln sich, Schwester Gisela erinnert sich besonders gerne an die Skifreizeiten. Einmal, so erzählt sie, habe sie einer der Leiter des „Offenen Abends“ darauf aufmerksam gemacht, dass sie auch zu den stillen Zeiten am Morgen komme könne: „Ich habe damals noch gedacht: Stille Zeiten – das brauchst du vielleicht, ich brauche so etwas nicht.“ Beruflich hat sie bald neue Pläne: Sie will als Krankenschwester in Afrika helfen. Doch dann stirbt unerwartet ihr Vater. Ein einschneidendes Erlebnis: „Ich habe ja vorher auch viel mit Sterben und Tod zu tun gehabt, aber das hat mich und meine Mutter total umgehauen.“ Ihre Mutter findet für die 27 Jahre ohne den Vater ihren eigenen Weg und sie lässt auch ihrer Tochter ihren eigenen Lebensraum. Was Schwester Gisela kurze Zeit nach dem Tod des Vaters erlebt, das empfindet sie in besonderer Weise als Fügung: Im Krankenhaus vor der Frühschicht liest sie eines Morgens wie gewohnt die Tageslosung, es ist der Vers: „Sei getrost und fürchte dich nicht, ICH bin‘s.“ Schwester Gisela weiß, dass für sie damit der Weg in die Christusbruderschaft Selbitz gemeint ist – die Communität im Frankenwald, die sie in den Jahren zuvor kennengelernt hat: „Mir war bewusst: Wenn ich ehrlich zu mir selbst bin, und wenn ich weiter ehrlich mitbeten will, dann muss ich jetzt nach Selbitz gehen.“

Als Schwester Gisela im Herbst 1972 in die Communität kommt, gehört sie zu einer größeren Zahl von Jungschwestern, wie sie damals noch genannt wurden. Dort tut sie zunächst, was alle Jungschwestern tun: Sie arbeitet, wo es not tut, in der Waschküche ebenso wie im Garten. Sie lernt und schätzt die stillen Zeiten, die Gebete, die den Tag gliedern. Sie ist angekommen.

Als Selbitzer Schwester wird sie in den darauffolgenden Jahren an verschiedenen Orten wirken: auf der Pflegestation im Altenheim Walter-Hümmer-Haus, dann im Krankenhaus in Naila. In diesen Jahren arbeitet Schwester Gisela die Geschichte ihres Lebens auf, auch, wie sie die Kriegs- und Nachkriegsjahre geprägt haben. Sie formuliert die Erkenntnis dieser Jahre mit den Worten: „Alles darf zu Christus unters Kreuz kommen und durch ihn erlöst und befreit, also entlastet und heil sein.“ 1993 geht sie als Gemeindeschwester nach Mittelfranken, ins Hammerbachtal, angegliedert an die Diakoniestation Hersbruck; es folgen wieder Jahre in Selbitz. Und dann, nach einem Intermezzo in München, kommt die 72jährige 2013 nach Bayreuth. Mit anfangs zwei anderen Schwestern lebt sie hier in einer Gemeinschaft: „Die Herausforderung gemeinsamen Lebens, die haben wir volle Pulle, so verschieden, wie wir sind. Und da dann Jesu Wort von der Versöhnung konkret werden zu lassen – das ist immer wieder eine Aufgabe.“ Sie kümmert sich um eine demenzkranke Dame, begleitet Flüchtlingsfamilien, leitet einen Hauskreis. Wieder einmal ist sie angekommen.

„Eure Alten sollen Träume haben“: Schwester Gisela findet einen Zugang zu dem Vers: „Wenn ich das Wort Träume höre, in meinem Alter, dann klingt in mir spontan an: eine große Leichtigkeit – eine Leichtigkeit auf dem Weg zum Ende, zum Himmel. Und dort, im Himmel? Noch ein Traum, für mich, für andere: Ich denke an die Geschichte, die über den Rabbiner Sussja erzählt wird, der gesagt hat: ‚Wenn ich einmal diese Welt verlassen und mich für meine Handlungen rechtfertigen muss, wird man mich nicht fragen, warum warst Du nicht wie Abraham, warum warst Du nicht wie Moses, warum warst Du nicht wie Maimonides. Man wird mich fragen: Warum warst Du nicht Sussja?‘ Diese Frage – warum bist du nicht du gewesen, die beschäftigt mich. Es ist meine Hoffnung, mein Traum vielleicht, dass Menschen mehr versuchen, sie selber zu sein. Dass sie bei allem, was von außen auf sie einstürmt, den inneren Menschen nicht vergessen.“

Bei ihr sei das gewachsen mit den Jahren: dass sie gelernt habe, wahrzunehmen, was in ihrem Inneren geschehe. Ein Gedicht von Dietrich Bonhoeffer kommt ihr in den Sinn: „Wer bin ich“; der Theologe hat es in der Haft geschrieben. Der Schlusssatz des Gedichts: „Wer bin ich? Einsames Fragen treibt mit mir Spott. Wer ich auch bin, Du kennst mich, Dein bin ich, o Gott!“ Schwester Gisela hat Zeit gebraucht, vor allem auch Zeiten und Phasen der Stille, um herauszufinden, wer sie ist, was ihre Bestimmung sein könnte: „Es war bei mir der Weg in die Christusbruderschaft.“ Den eigenen Weg zu finden, das wünscht sie anderen Menschen auch, und dass sie lernen, sich selbst und die anderen zu bejahen und nicht immer zu denken, die anderen seien besser: „Alle Not liegt im Vergleich – das ist für mich ein prägender Satz von Hanna Hümmer, der Gründerin unserer Gemeinschaft. So verschieden, wie wir Menschen sind – Gottes überwältigende Liebe gilt jedem ganz persönlich.“