„Mein Traum: Weiter musizieren zu dürfen“

Sigrid Böhmer (Jahrgang 1936)

Mein persönlicher Traum ist es, weiter musizieren zu dürfen und damit mich und andere glücklich zu machen. Es macht meinen Charakter aus, dass man aus dem, was ist, etwas machen muss. Das, wovon man sagt, das ist unmöglich, muss man angehen, es wachsen einem dann auch Kräfte zu. Die Erinnerungen an Flucht und Krieg beschäftigen mich: Es ist mir wichtig, dass wir uns erinnern an das, was war, damit allen, die leben und die noch geboren werden, möglichst erspart bleibt, was wir erleben mussten. Träume von einem Leben nach dem Tod habe ich nicht. Aber Gott hat so viele Energien in die Welt gesetzt, die gehen nicht verloren: Dass einer toll Schach gespielt hat, wunderbar musiziert hat, Sprachen beherrschte – das muss irgendwo bleiben.

Über Umwege nach Bayreuth

Es waren einige Umwege, auch schwere Wege, die die gebürtige Breslauerin Sigrid Böhmer nach Bayreuth führen sollten. Ihren Namen allerdings erhielt sie bereits aus innerer Verbundenheit ihres Vaters zu den Festspielen in der Wagnerstadt: Für sein viertes Kind – nach drei Töchtern sollte es ein Junge werden – hatte er Siegfried als Namen vorgesehen. Es wurde ein Mädchen und damit eine Sigrid. „Das ist mein Schicksal geworden“, schmunzelt Sigrid Böhmer und zeigt den Impfschein, auf dem noch Siegfried steht, mit einem Strich quer durch die Mitte. Wenn man die Lebensgeschichte der pensionierten Volksschullehrerin kennenlernt, ist man geneigt zu denken, dass hier ein Mensch von Anfang an wusste, was er wollte und seinen eigenen Weg gegangen ist. Auch, wenn dieser Weg kein leichter war.

Die pädagogische Ader, die Liebe zur Musik – und eine gute Portion Kampfgeist

Vieles von dem, was Sigrid Böhmers Leben prägen sollte, war ihr bereits in die Wiege gelegt, als sie 1936 in Breslau zur Welt kam: Die pädagogische Ader, die Liebe zur Musik – und eine gute Portion Kampfgeist, „ein Widder eben“, kommentiert Sigrid Böhmer, geborene Grohmann. Das kleine Mädchen wächst umsorgt auf: Die Familie besitzt ein Haus, die älteren Schwestern kümmern sich mit um sie, Musik wird großgeschrieben, auch Sigrid Böhmer lernt schon im Vorschulalter Klavierspielen. Doch die behütete Welt des Kindes bröckelt zusehends: Der Vater weigert sich, der NSDAP beizutreten, was ihn die Beförderung zum Rektor kostet. 1939 wird er eingezogen. Die Großmutter, zu der Sigrid Böhmer ein inniges Verhältnis hatte, stirbt 1942. Im Januar 1945 dann die Flucht: Über 100 000 Menschen fliehen aus Breslau vor den nahenden russischen Truppen. Sigrid Böhmer erinnert sich an den hohen Schnee, an die schneidende Kälte, um die 20 Grad Minus waren es. Ihre Mutter schickt sie mit der Nachbarin mit – auf einem Möbelwagen, vorne zieht ein Traktor. In ihrem kleinen Kalender von 1945, aus der Zeitung ausgeschnitten und bis heute bewahrt, vermerkt die Achtjährige: 23. Januar, Flucht. Wenige Tage später kommt die Mutter mit den zwei mittleren Schwestern nach; sie sind vor allem zu Fuß unterwegs, das hätte die Jüngste noch nicht geschafft. In Bunzlau treffen sie wieder zusammen. Nach 14 Tagen nimmt die Mutter mit zwei Töchtern den letzten Zug in Richtung Westen. Um Mitternacht entscheidet sie, auszusteigen und in Gablonz Station zu machen. Es ist der 10. Februar 1945. „Man könnte es eine Eingebung nennen“, kommentiert Sigrid Böhmer. Denn die Züge, die weiterfuhren, saßen alle in Dresden fest, und viele Flüchtlinge zählten zu den rund 25 000 Toten, die der Bombardierung Dresdens vom 13. bis 15. Februar zum Opfer fielen. Wenn Sigrid Böhmer in Dresden ist, führt ihr Weg sie immer in die Frauenkirche, um dort ein stilles Dankgebet in den Kirchenraum zu schicken für die Bewahrung vor den Bombenangriffen.

Der Sommer 1945

Am 1. März 1945 fällt der Vater bei Cottbus. Der Moment, in dem die Mutter die Todesnachricht erreicht, hat sich Sigrid Böhmer eingebrannt. Über weitere Umwege findet die Familie im Sommer 1945 im Vogtland Aufnahme in einem Bauernhof und damit einen Raum zum Schlafen und etwas zum Essen – die beiden großen Probleme während der Flucht. Die neunjährige Sigrid hilft fleißig auf dem Hof mit. Im Vogtland dann die erste Begegnung mit den amerikanischen Truppen: Ein farbiger Soldat beschenkt die Kinder mit Kaugummis. Bald rücken die russischen Truppen nach, die Amerikaner ziehen sich nach Bayern zurück, die Zonengrenze entsteht. Sigrid und ihre Familie bleiben auf der russischen Seite, weil sie Unterkunft und Essen haben. Da die Mutter russisch sprechen und sich verständigen kann, gelingt es ihr in ihrer energischen, psychologisch geschickten Art, sich und ihre Töchter vor „Annäherungsversuchen“ zu bewahren.

Pläne für die Zukunft

Sehr mit Angst besetzt bleibt eine Nacht im November 1946 in Erinnerung, in der Sigrid und ihre Mutter schwarz die Zonengrenze in die amerikanische Besatzungszone überschritten. So gelangen die beiden in die Fränkische Schweiz, nach Wadendorf nahe Plankenfels, wo eine von Sigrids Schwestern inzwischen einen Mann gefunden hat. Sigrid Böhmer hat andere Pläne: Sie will aufs Gymnasium, um später einen Beruf auszuüben, der sie fordert. Erst als jemand erwähnt, dass es ein Wunsch des Vaters gewesen sei, dass eine seiner Töchter Lehrerin werde, kann sich das Mädchen durchsetzen. Sigrid Böhmer besteht die Aufnahmeprüfung am Städtischen Realgymnasium für Mädchen in Bayreuth; sie pendelt zum Unterricht, bis die Mutter mit ihr 1954 ein Zimmer in St. Georgen beziehen kann. 1956 bekommen sie eine Wohnung in der Birken über die Bayerische Landessiedlung vermittelt. Nun haben sie erstmals nach der Flucht wieder eine eigene Wohnung, mit eigenen Zimmern, eigenen Betten, einem Bad.

Nach dem Abitur

Nach dem Abitur 1957 studiert Sigrid Böhmer an der Lehrerbildungsanstalt Bayreuth Volksschullehramt. Sie unterrichtet in Haag bei Spänfleck, dann in Leupoldsdorf im Fichtelgebirge. In Bayreuth ist sie weiter fest eingebunden, nicht nur familiär, sondern auch durch die Musik: Sigrid Böhmer ist Streicherin. Als Mädchen hatte sie Geige, später Bratsche gelernt: „Ich wusste als Kind: Ich will ein Instrument, das ich bei der nächsten Flucht unter den Arm klemmen kann.“ Einmal in der Woche pendelt die junge Lehrerin nun von Wunsiedel nach Bayreuth zu den Proben des Kammerorchesters der Pädagogischen Hochschule, dann wird sie nach Althaidhof bei Creußen versetzt. Nun geht sie auch zu den Proben des Orchestervereins, wo am ersten Pult der Geiger Wolfgang Böhmer sitzt, Organist, Französisch- und Englischlehrer an der Oberrealschule Bayreuth. „Du hast immer zum ersten Pult geschaut“, wird Sigrid Böhmer später hören – das muss man ja auch als Bratschistin, schmunzelt sie. Wolfgang Böhmer und sie werden ein Paar, sie heiraten im April 1965. Sigrid Böhmer zieht nach Bayreuth, unterrichtet nun vor Ort. Dann hört sie mit dem Arbeiten auf, das Paar wünscht sich Kinder. Als sich herauskristallisiert, dass ihnen der Kinderwunsch verwehrt bleibt, beginnt Sigrid Böhmer wieder mit der Arbeit. Nach Zwischenstationen kommt sie an die Schule in St. Georgen – und erlebt dort, was sie als ihre glücklichsten Berufsjahre bezeichnet: Sie darf eine Musikmodellklasse führen. Gesang, Bewegung, Orff: Sigrid Böhmer erstellt ihr eigenes Konzept, schafft Instrumente an, hält Fortbildungen. Sie ist überzeugt: „Die Musik wirkt sich so positiv auch auf andere Fächer aus.“ Zwanzig Jahre lang leitet sie zudem den Bayreuther Lehrerchor.

Weitermachen, trotz des Schmerzes

1994 stirbt ihr Mann. Sigrid Böhmer erinnert sich an den Moment, als sie vom Krankenhaus nach Hause kam: „Ich saß da und dachte, was machst du jetzt? Und dann habe ich das Telefon zur Hand genommen.“ Aufstehen, weitermachen, trotz des Schmerzes, das Leben wieder in die Hand nehmen, auch, als nur wenige Wochen nach ihrem Mann ihre Mutter stirbt. 1996 geht Sigrid Böhmer in den Ruhestand, sie unternimmt Bildungsreisen, vor allem aber musiziert sie in verschiedenen Ensembles, unter anderem im Kulmbacher Kammerorchester und im Philharmonischen Chor Bayreuth. 2006 lernt sie einen neuen Lebensgefährten kennen. Als er nach einem Schlaganfall 2014 ins Hospitalstift zieht, verbringt Sigrid Böhmer täglich mehrere Stunden dort, besucht mit ihm die Bayreuther Parkanlagen, Konzerte, Festspiele. Ins Hospitalstift nimmt sie oft ihre Bratsche mit, um für die Bewohner zu musizieren. Auch nach dem Tod des Lebensgefährten bleibt sie dem Pflegeheim treu: „Es macht mich glücklich zu musizieren. Wenn die Bewohner mitsummen, mitsingen und strahlen – das ist doch wunderschön. Ein Geben und Nehmen.“ Wenn man Sigrid Böhmer nach ihren Träumen befragt, dann ist das einer davon: Weiter musizieren, ihren vielfältigen Interessen noch lange nachgehen zu dürfen – zu reisen, zu fotografieren, Vorträge, Konzerte, Opernaufführungen zu besuchen. Weiterhin viel mit anderen Menschen zu erleben, dabei voneinander lernen: „Es macht meinen Charakter aus: Man muss aus dem, was ist, etwas machen. Das, wovon man sagt, das ist unmöglich, muss man angehen. Es erwachsen einem Kräfte, immer wieder.“ Die Erinnerungen an Flucht und Krieg beschäftigen sie, und sie hofft, träumt vielleicht, dass denen, die leben und die noch geboren werden, erspart bleiben möge, was sie erlebt hat. „Es darf nicht noch einmal geschehen, was damals in Deutschland war. Wir müssen immer wieder auch daran erinnern, wie es zu diesem Rechtsruck in der damaligen Zeit gekommen ist.“

„Gott hat so viele Energien in die Welt gesetzt, die gehen nicht verloren“

83 Jahre ist Sigrid Böhmer alt, viele Menschen, die ihr lieb waren, hat sie verloren. „Das Leben ist einmal zu Ende, so ist es eben.“ Visionen eines ewigen Lebens teilt sie nicht. Trotzdem, ein Gedanke beschäftigt sie, gerade, wenn sie an den Tod ihres Mannes denkt: „Dass einer so toll Schach gespielt hat, so wunderbar musiziert hat, so gut Sprachen konnte – das muss doch irgendwo sein. Gott hat so viele Energien in die Welt gesetzt, die gehen nicht verloren.“ Vielleicht ist es auch einfach eine Frage der Sprache, die man für die letzten Dinge wählt. Als ihr Lebensgefährte beerdigt wurde, sang der Pfarrer die Worte: „Zum Paradies mögen Engel dich geleiten.“ Für sich könne sie dieses Bild nicht annehmen, sagt Sigrid Böhmer: „Aber ich war sehr gerührt und habe gedacht: Jetzt gibt er dem Toten etwas mit, so eine Zuversicht. Dass ihm das zugesprochen wurde, fand ich sehr beruhigend.“

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